Der Bundesgerichtshof (BGH) befasst sich im Urteil vom 23. Januar 2025 (Az. IX ZR 229/22) mit der Frage, ob eine vorläufig vollstreckbare, aber noch nicht rechtskräftige Forderung bei der Beurteilung der Zahlungsunfähigkeit eines Schuldners gemäß § 17 Abs. 2 Satz 1 Insolvenzordnung (InsO) bereits zu berücksichtigen ist. Das Urteil schafft Klarheit und bringt zugleich eine Handlungsanweisung für die Geschäftsführer mit.
Grundsatz
Ein Schuldner ist zahlungsunfähig im Sinne des § 17 Abs. 2 Satz 1 InsO, wenn er wegen eines objektiven, kurzfristig nicht zu behebenden Mangels an Zahlungsmitteln nicht in der Lage ist, die fälligen Zahlungspflichten zu erfüllen (BGH, Beschluss vom 19. Juli 2007 – IX ZB 36/07, BGHZ 173, 286 Rn. 8). Das setzt voraus, dass die Zahlungspflicht tatsächlich besteht und fällig ist. Zudem muss aus einer Gläubigerhandlung zu entnehmen sein, dass vom Schuldner Erfüllung verlangt wird. Eine Forderung, die tatsächlich nicht besteht oder aus Rechtsgründen nicht fällig ist, begründet dagegen nicht die Zahlungsunfähigkeit. Das grundsätzlich selbst dann nicht, wenn hinsichtlich der Forderung ein (unberechtigter) vorläufiger Titel vorliegt.
Die Frage, ob Zahlungsunfähigkeit vorliegt, ist insbesondere relevant für die Bewertung, ob ein Insolvenzantrag gestellt werden muss oder das Risiko der Anfechtung von Zahlungen durch den Insolvenzverwalter besteht.
Die Insolvenzantragspflicht des Geschäftsführers einer juristischen Person folgt aus § 15a InsO und ist eine zentrale rechtliche Pflicht in Deutschland, die insbesondere die GmbH-Geschäftsführer immer im Auge haben sollten. Danach muss ein Geschäftsführer unverzüglich, spätestens innerhalb von drei Wochen, nach Eintritt eines Insolvenzgrundes, wie etwa der Zahlungsunfähigkeit, einen Insolvenzantrag stellen.
Die Anfechtung von Zahlungen im Insolvenzverfahren ist ein zentrales Instrument des Insolvenzverwalters, um bereits geleistete Zahlungen zurückzuholen und die Insolvenzmasse zu mehren. Sie ist in den §§ 129 ff. InsO geregelt. So stellt der Anfechtungstatbestand des § 130 InsO unter anderem darauf ab, ob im Zeitraum von drei Monaten vor Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens eine fällige und vertraglich geschuldete Zahlung erfolgte und der Gläubiger von der Zahlungsunfähigkeit wusste. Dann kann die Zahlung vom Insolvenzverwalter zurückgefordert werden.
Das Urteil des BGH schafft Klarheit im Umgang mit vorläufig vollstreckbaren Titeln bei der Bewertung der Zahlungsunfähigkeit.
Kernaussagen des Urteils
Der BGH entschied, dass eine streitige Forderung, über die ein vorläufig vollstreckbarer Titel vorliegt, bei der Beurteilung der Zahlungsunfähigkeit in Höhe des Nennwertes der titulierten Forderung zu berücksichtigen ist, wenn die Voraussetzungen für eine Vollstreckung aus dem Titel vorliegen und der Titelgläubiger die Vollstreckung eingeleitet hat. In solchen Fällen muss der Schuldner die Forderung in seinem Liquiditätsstatus vollständig passivieren, da die Beweiswirkung des Titels den Bestand der Forderung belegt. Konkret führt der BGH dazu aus:
„Für die Beurteilung der Zahlungsunfähigkeit des Schuldners kommt es auf die objektive Rechtslage an. Dies gilt insbesondere für die Frage, ob Verbindlichkeiten tatsächlich bestehen und fällig sind. Liegt hinsichtlich der Forderung ein vorläufig vollstreckbarer Titel vor, wirkt sich dies jedoch hinsichtlich der Beweislast für das Bestehen streitiger Forderungen aus. Danach ist eine streitige Forderung, über die ein vorläufig vollstreckbarer Titel vorliegt, in Höhe des Nennwerts der titulierten Forderung zu berücksichtigen, wenn die Voraussetzungen für eine Vollstreckung aus dem Titel vorliegen und der Titelgläubiger die Vollstreckung eingeleitet hat.“
Bedeutung für die Praxis
Die Kernaussage hat deutliche Auswirkungen auf die Praxis der Insolvenzverwalter und Unternehmen, die hier einmal auf zwei wesentliche Punkte reduziert werden können.
- Frühzeitige Insolvenzantragspflicht: Schuldner können sich im Kontext der Prüfung der Zahlungsunfähigkeit nicht (mehr) darauf berufen, dass eine Forderung noch nicht rechtskräftig ist, wenn ein vorläufig vollstreckbarer Titel vorliegt und die Vollstreckung betrieben wird.
- Anfechtungsrisiken: Zahlungen auf solche Forderungen können als anfechtbar gelten, wenn sie in der kritischen Phase vor der Insolvenzeröffnung erfolgen.
Um der Beweisvermutung zugunsten des Bestehens der Forderung und damit einhergehend die Erforderlichkeit bei der Berücksichtigung in der Zahlungsunfähigkeitsprüfung zu entgehen, muss gehandelt werden.
So können etwa Einwendungen gegen die titulierte Forderung oder gegen deren Vollstreckbarkeit etwa durch Schutzantrag des Schuldners, Antrag auf Einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung oder einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung nach Erhebung der Vollstreckungsabwehrklage oder Klage gegen die Erteilung der Vollstreckungsklausel. Dann, so der BGH, spricht keine rechtliche Vermutung für die Notwendigkeit der Berücksichtigung der Forderung.
Der Verfasser dieses Beitrages ist Fachanwalt für Familienrecht und auch Fachanwalt für Verkehrsrecht sowie ADAC Vertragsanwalt.